Schauspieler Hesi Heliyou in zwei verschiedenen Abschnitten seines Stücks
Profi-Künstler:innen mit Behinderungen: Betrachtet unsere Persönlichkeiten und traut uns mehr zu!
Internationales, inklusives Theaterfestival im polnischen Łódź mit einem sehr starken, berührenden Stück über umstrittene historische Figur.
Ein Tisch, ein fahrbarer hochkantiger Rahmen, hoch wie eine Tür und eine Leinwand weit oben. Das ist die Bühne. Dunkel, sehr dunkel. Ein Mann betritt vorsichtig die Bühne, wird kurz zum Tisch geleitet. Und beginnt zu spielen. Für eine Stunde verwandelt sich der Schauspieler Hesi Heliyou vom Theater Na Laga’at (aus Jaffa, Israe; auf Deutsch bedeutet der name: Bitte, berühren – der einzige Weg der Kommunikation für Menschen, die nicht sehen und hören) in Yakov Kozalchik/ Jakow Kozaltschik, eine reale, historische, umstrittene Figur. Mit diesem Stück wurde am 20. September 2021 das 16. Internationale inklusive Festival „Therapie und Theater“ im polnischen Łódź (selbstverständlich unter Coronabedingungen und deswegen mit rund einem Jahr Verspätung) im Teatr Pinokio eröffnet. Ein berührendes, starkes, auch kein leichtes Stück, weil über eine jahrzehntelang in Israel verpönte Figur.
Starker Bub
Die Hauptfigur des Stücks war schon als Kind im polnischen Krynica so kräftig, dass er mit 7 Jahren den Henkel eines vollen Kübel Wassers zwischen seine Zähne klemmte und so vom Brunnen nach Hause trug. Später wurde er Ringer, reiste durch Kuba, die USA, Mexiko und Argentinien. Als er 1938 mit einer internationalen Ringergruppe in die Heimat zurückkehrte, trat er in Warschau mit Judenstern auf seinem Zirkus-Ringer-Outfit auf. Als die Nazis seine Heimatstadt besetzten, rekrutierten sie ihn für die Judenpolizei im Ghetto – Umschreibung für eine Art Freiluft-Konzentrationslager – von Krynica. Selbst das bewahrte ihn nicht davor, ins Vernichtungslager von Auschwitz deportiert zu werden. Auch dort machten ihn die Nazis zum Kapo (Anführer) im berüchtigten Todesblock 11.
Lakai und Retter
Einerseits stand er den KZ-Oberaufsehern zu Diensten, andererseits bemühte er sich, unter den Augen der Faschisten immer wieder Juden zu retten, einmal schnitt er dezent einen Strick, mit dem Menschen erhängt wurden, an.
Himmel
Nach der Befreiung des Lagers, Polens und Europas vom Faschismus, wandert er nach Israel aus und erfüllte sich einen Traum, eröffnete einen Kiosk in Holon, südlich von Tel Aviv. Doch sein Glück, im Stück vom Schauspieler Himmel“ genannt (auf Hebräisch gesprochen mit Übertiteln auf Polnisch und Englisch), währte nicht lange. Eineinhalb Jahre nach dem Krieg veröffentlichten Medien Schlagzeilen über den „Kapo vom Todesblock in Auschwitz, der mit den Nazis kollaborierte“.
Hölle
Für Kozalchik brach wieder eine Welt zusammen. Er forderte Beweise, brachte Auschwitz-Überlebende als Zeugen, die aussagten, dass er vielen Juden geholfen habe. Sein Himmel auf Erden wurde zur Hölle dortselbst. Seine Karriere – neben dem Kiosk trat er als Entertainer auf – war zu Ende, er selbst verfiel in Depressionen und starb nur 50-jährig. (Vor wenigen Jahren wurde seine Geschichte – aufgezäumt auf seinem Sohn, der den Vater nie kennenlernen konnte – verfilmt.).
Inklusives Kunst- und Kulturzentrum
Hesi Heliyou ist Teil des Ensembles von Na Laga’at aus Jaffa (Israel). Dies ist ein Kunst- und Kulturzentrum mit Theater, Workshop-Zentrum, Restaurant im Dunklen und Veranstaltungsort. Das Besondere: 70 der 100 Beschäftigten des Zentrums sind entweder blind, gehörlos oder beides. Der genannte Schauspieler ist blind. Zu einem Interview mit dem genannten Schauspieler geht es in einem eigenen Beitrag, der unten verlinkt ist.
Von Schlagzeilen erschlagen
Für das Festival wählte das Theater dieses Stück aus, weil es, wie der Schauspieler am Ende des Stücks, bei dem er aus der Rolle schlüpft und wieder von Kozalchik zu Hesi Heliyou wurde, thematisiert, dass nicht die Persönlichkeit von Yakov Kozalchik ge- und hinterfragt wurde, sondern Schlagzeilen sein Leben sozusagen erschlugen. Erst rund 50 Jahre nach seinem Tod durfte überhaupt eine Inschrift auf seinem Grab angebracht werden, so eine umstrittene Persönlichkeit war er in der israelischen Öffentlichkeit.
An den Rand gedrängte Menschen
Ähnliches gelte für viele Menschen mit Behinderung(en), wo oft nicht gefragt werde, was sind das für Menschen, was können sie, sondern auf ihr Handicap reduziert werden. Und weil es ihnen nicht zugetraut wird, werden sie in ihren Möglichkeiten von vornherein beschnitten. Genau diese Chancen zu eröffnen ist eines der Prinzipien von Na Laga’at – und der anderen Projekte aus Schweden, Belgien, Griechenland, Deutschland sowie dem diesmaligen Veranstalterland dieses EU-Projekts sowie aus Österreich (Theater Arbos). Wobei es nicht bei allen Projekten um Menschen mit Behinderung(en) geht, sondern auch um andere an den Rand gedrängte Gruppen, beispielsweise Geflüchtete, Jugendliche usw.
Compliance-Hinweis:
Die Berichterstattung konnte/kann nur erfolgen, weil Kinder I Jugend I Kultur I Und mehr … im Rahmen des EU-Projekts von ARBOS auf diese Reise eingeladen worden ist.